Lesson Learned aus Corona
Auswirkungen für die Hochschulen
Die TU Graz befindet sich, wie alle anderen Hochschulen und die gesamte globale Gesellschaft, in einem beispiellosen Experiment im Kontext der Digitalisierung, ausgelöst durch die COVID-19 Pandemie.
Durch eine radikale Veränderung der Rahmenbedingungen aufgrund dieser Pandemie waren die Institutionen gezwungen, nahezu alle Arbeits- und Kollaborationsprozesse in extrem kurzer Zeit neu zu denken und so weit wie möglich zu digitalisieren. Im weiteren zeitlichen Verlauf erhöhte sich der Gestaltungsspielraum; gleichzeitig geht die Aufforderung der Hochschulen raus, sich mit der Digitalisierung des universitären Betriebes weiterhin verstärkt auseinanderzusetzen. Eine einfache Rückkehr zum Davor scheint ausgeschlossen.
- Die bisherigen Pläne und Strategien müssen angesichts dieser neuen Erfahrungen reflektiert werden
- Bisher undenkbare Abläufe und Lösungen werden durch eine kollektive Kraftanstrengung plötzlich eine gelebte Realität
- Vielschichtige Perspektiven auf Digitalisierung werden sichtbar; was, wann und wie digitalisiert wird wurde zu einer multidimensionalen Entscheidung
Das Forschungsteam um Bernhard Wieser, Viktoria Pammer-Schindler, Christian Dayé, Mia Bangerl, Franziska Gürtl, Kübra Karatas, Stefan Reichmann und Marion Rowies am ISDS (Institute of Interactive Systems and Data Science) schaffte mit ihrer wissenschaftlichen Begleitforschung zu den Facetten der ‚Corona-Digitalisierung‘ an der TU Graz und in Folge an den steirischen Hochschulen einen wichtigen Impuls für weitere Entwicklungsschritte für die Bereiche Lehre, Forschung und Verwaltung.
Was ist ein Reallabor?
Reallabore experimentieren, sie entwickeln, erproben und erforschen Neues. Partizipativ und kooperativ Transformationsprozesse anzustoßen und wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Lernprozesse zu festigen sind wesentliche Ziele der Reallaborarbeit.
Mehr Hintergrundinformationen und Unterlagen zur Gesamtinitiative ‚Reallabor Digitalisierung 2021‘ der TU Graz finden Sie unter der beiliegenden Projektbeschreibung.
Projektbeschreibung
Ausgangslage Reallabor Digitalisierung 2020
März 2020 – ein Meilenstein der digitalen Transformation wurde erreicht. Nach Ausbruch der COVID-19 Pandemie war der ‚Need for Action‘ sehr schnell sehr klar. Es musste operativ gehandelt werden, um die Arbeits- und Kollaborationsprozesse in extrem kurzer Zeit neu zu denken und zu digitalisieren – und all dies im Rahmen der Möglichkeiten, die den Hochschulen Österreichs im Augenblick des Pandemiestarts zur Verfügung standen.
Die Technische Universität Graz sah hierin eine Chance, die Erfahrungen mit Digitalisierung und ihren Prozessen zu sammeln und diese in einen strategischen Handlungsrahmen einzubetten. Im Zentrum stand der Gedanke, Digitalisierungsprozesse proaktiv zu gestalten und sich bewusst mit den systematischen Risiken und Möglichkeiten auseinander zu setzen.
Ziele
Das Vizerektorat für Digitalisierung und Changemanagement erstellte daher folgende Ziele:
- Die bisherigen Pläne und Strategien sollen an die Situation adaptiert und Prioritäten hinterfragt werden
- Auf organisatorischer sowie individueller Ebene sollen Vorbehalte und Defizite jeglicher Art sowie andere Barrieren in den Hintergrund treten
- bisher undenkbare Abläufe und Lösungen sollen durch kollektives Engagement zu einer gelebten Realität werden
- Diese rasche Digitalisierungphase, die unter anderen Umständen möglicherweise nicht in diesem Tempo stattgefunden hätte, soll wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch betrachtet und genutzt werden
- Folgende Fragen sollen in Zukunft gestellt und geklärt werden: Welche Aspekte der Digitalisierung sollen auch nach der Pandemie behalten werden, welche nicht? Welche neuen Fragen ergeben sich im Punkto zukünftige Digitalisierung an Hochschulen aus dieser Situation für die TU Graz – wie auch für alle anderen Universitäten?
Begleitung und Umsetzung
Die Aufgabe des Team Transformationsmanagement war, den zusammenhängenden Gesamtprozess zu begleiten und aktiv zentrale Supportmaßnahmen mit umzusetzen.
Die Kernkompetenz des Teams bestand in der Begleitung der Gesamtinitiative ‚Reallabor Digitalisierung 2020‘.
Das vorrangige Ziel bestand zum einem darin, auf einer gemeinsamen, breiten Ebene integrativ und interdisziplinär zusammen zu arbeiten und damit Chancen für einen neuen hochschulischen Arbeitsmodus zu erschaffen. Ein weiteres Ziel war die Errichtung eines Managements des digitalen Veränderungsprozesses.
Basierend auf einer Stakeholder Analyse wurden alle Handlungsfelder und mehrere Organisationseinheiten eingebunden (ZID, VPU, Kommunikation & Marketing, LLT, Personalentwicklung, Weiterbildung, Repräsentanten aus Lehre, Forschung und Verwaltung) und ein Konzept auf 3 Ebenen aufgebaut. Diese drei Ebenen veranschaulichen kurzfristige Maßnahmen (1), mittlefristige Maßnahmen (2) und Strukturmaßnahmen für einen übergeordneten Kulturwandel in allen Organisationseinheiten. In jeder Ebene wurden entsprechende Handlungsfelder erfasst und damit nach Priorität geordnet. Zu den Handlungsfeldern wurden geeignete Handlungsaufforderungen festgelegt. So befand sich beispielsweise in der ersten (kurzfristigen) Ebene das prioritäre Handlungsfeld "Aufsetzen zentraler Supportmaßnahmen", mit angeführten Handlungsaufforderungen wie "Usersupport für Home Office und Teammanagement Tools".
Nach Ende der kurzfristigen Ebene ging es in die zweite mittelfristige Ebene weiter, in der es nun darauf ankam, Evaluierungen der bisherigen Lösungen durchzuführen und neue Lösungen für die bestehende Herausforderungen zu diskutieren. Für diesen Schritte wurden Reallabore für Leistungs- Arbeits und Kollaborationsprozesse und Instrumente geschaffen. Innerhalb dieser Reallabore wurden nun bestehende und neu entstandene Prozesse und Maßnahmen evaluiert und reevaluiert, aktualisiert und adaptiert.
Der Change wurde an dieser Stelle mit einer klaren Auftragsklärung und Zielsetzung initiiert, geplant und aufgrund des aktuellen Bedarfs unmittelbar gestartet.
In einer ersten Phase wurden parallele Befragungen an den Hochschulen Österreichs durchgeführt, ebenso wie Studierendenumfragen und Begleitstudien. Zeitgleich bildete sich die Arbeitsgruppe Homeoffice, die sich aus Repräsentanten der einzelnen Serviceeinrichtungen zusammensetze. Diese Arbeitsgruppe beschäftigte sich unter anderem damit, wie mobiles Arbeiten in Zukunft aussehen könnte und anderen verwandten Themenbereichen.
In einer zweiten Phase startete der Stakeholder Prozess, dessen Kerngruppe sich aus Repräsentanten der Handlungsfelder Lehre, Forschung, Verwaltung und 3d Mission zusammenstellte. Diese Gruppe analysierte die Ergebnisse aus der ersten Phase und gab Einschätzungen dazu ab, welche Aspekte für die entsprechenden Handlungsfelder nützlich sind und verwendet werden können.
In einem letzten Schritt wurden aus den vorangegangenen Erhebungen und dem Stakeholder Prozess eine einschlägige Digitalisierungspolicy ausgearbeitet.
Volià Reallabor!
Ergebnisse
Die Veränderung wurde TU Graz intern laufen koordiniert und evaluiert. Folgende Ergebnisse konnten in die Umsetzung und Integration in die Linie vollzogen werden:
- Sehr rasch wurden mehr als 150 Webex Schulungen im Zeitraum 03-05/2020 mit dem ZID der TU Graz aufgrund der hohen Nachfrage umgesetzt (Ebene 1 – kurzfristige Maßnahmen)
- TU4U – Intranet Seite: ‚Arbeiten Lehre, Forschen und Kollaborieren in einer digitalen Welt‘ wurde erstellt. (Ebene 1 – kurzfristige Maßnahmen). Damit erhalten Mitarbeiter*innen gebündelt eine Sammlung von Informationen, die ihnen helfen als virtuelle Teams im Homeoffice gut, motiviert und effizient (zusammen) zu arbeiten. Diese Seite wird laufend aktualisiert und erweitert.
- Die begleitende wissenschaftlichen Studie vom Team um Assoc.-Prof. Dr. Bernhard Wieser und Assoc.-Prof. Dr. Viktoria Pammer-Schindler an der TU Graz wurde aufgebaut, umgesetzt und kommuniziert (Ebene 1: mittelfristige Maßnahmen). Ein darauf aufbauendes Projekt wurde vom Land Steiermark gefördert und im Jahr 2021 durchgeführt.
- Die Erkenntnisse der Studie sowie sich daraus abgeleiteten Ziele wurden in der aktuellen Digitalisierungsstrategie aufgearbeitet und umgesetzt. Ein erstes Modell wurde in Workshops partizipativ entwickelt und schlägt sich in einer aktualisierten Digitalisierungspolicy nieder.
- Aufbau und Prozessbegleitung eines ‚Mobile Office‘ an der TU Graz inkl. Umsetzung einer Homeoffice Befragung mit Mitarbeiter*innen der TU Community (05/20 – 09/21) wurde abgeschlossen und in der Linie verankert.
- Die OE Personal- und Kompetenzentwicklung hat ein umfassendes Schulungsangebot für Führungskräfte und Mitarbeiter*innen entwickelt, um die neue Form der Zusammenarbeit zu stärken.
- Im Rahmen der Mitarbeiter*innenbefragung 2020 wurde die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen zu den ersten Covid-Unterstützungangeboten der TU Graz abgefragt und die wesentlichen Erkenntnisse in den Gesamtprozess zu ‚Mobiles Arbeiten‘ integriert.
- Es wurden neue Richtlinien aus dem Vizerektorat Personal und Finanzen (Betriebsvereinbarung Home Office) und dem Vizerektorat für Digitalisierung und Change Management (Informationsrichtlinie, BYOD (Bring your own device)-Richtlinie und Gesamtprozessbegleitung) mit 09/2021 kommuniziert.
- Seit Oktober 2021 liegt der Auftrag der Prozessbegleitung zur Weiterentwicklung des Mobile Office an der VPU vor (‚Mobiles Arbeiten/Homeoffice‘, homeoffice-digital@tugraz.at). Dies geschieht kollaborativ mit OE Personal, OE Personalentwicklung, OE ZID, OE Einkauf und OE Kommunikation und Marketing, um die Ebenen Organisation, Technik und Mensch optimal abzustimmen.
What's next?
Weiteres wurden nächste Schritte erarbeitet, die wie folgt gelistet sind:
- Die ‚Mobile Office‘ Initiative an der TU Graz weiter ausgebaut und laufend evaluiert.
- Die Aktualisierung der Digitalisierungspolicy wird von Seiten des Transformationsmanagements partizipativ begleitet und abgeschlossen.
- Die Kommunikation und der Dialog zum Thema ‚Digitalisierungspolicy‘ und Hochschulraum 5.0 soll weiter am Digital University HUB gefördert und unterstützt werden.
- Finaler Projektbericht zum ‚Reallabor Digitalisierung‘ geht mit 04/2022 an das Bundesministerum für Bildung, Wissenschaft und Forschung
Kulturwandel und Strategie
Die Ebene des Kulturwandels zieht sich wie ein Deckmantel über alle Handlungsfelder. Im Bereich der Führung gilt es, eine Kultur der digitalen Zusammenarbeit zu etablieren, die flexibel, inklusiv und vertrauensbasiert ist. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass Corona nicht gleichzusetzen ist mit Digitalisierung. Vielmehr ist die Pandemie als eine plötzlich auftretende Bodenwelle und Verwerfung der Fahrbahn zu betrachten, welche in Folge dazu geführt hat, das Fahrzeug - den Universitätsbetrieb - genauer zu inspizieren, Teile zu reparieren und auszutauschen, das Öl zu wechseln, möglicherweise auch die eine oder andere neue Steuerkette einzusetzen, damit Österreichs Hochschulen nicht abgehängt werden. Legt man diese Analogie weiter um, handelt es sich konkret darum, digitale Prozesse in Lehre, Forschung und Verwaltung in Präsenz und virtuell anzustoßen und weiterzuentwickeln. Auch hybride Modelle werden hier zukünftig eine Rolle spielen. In diesem Sinne ist das Aushebeln eingeübter Verhaltens- und Denkweisen, kurz die Etablierung eines Kulturwandels der zielführende Weg.
Change Management
Ungeplanter Versuch bringt weitreichende Erkenntnisse
Mit dem Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 steht die Gesellschaft plötzlich weitgehend still. Fieberhaft wird allerorten nach Lösungen gesucht, damit das Leben weitergehen und aufrechterhalten werden kann. Auch die TU Graz ist von der neuen Situation in jeder Faser betroffen. Lehre, Forschung und Verwaltung wechseln von einem Tag auf den anderen komplett in die digitale Welt und beweisen dabei erstaunliche Resilienz.
Bereits in den ersten Wochen der Krise wächst die kollaborative Idee, diese einzigartige Forschungssituation unter den Aspekten von Innovation und Change wissenschaftlich zu begleiten. Die Studie soll die Auswirkungen der Eildigitalisierung durch Corona auf die TU Graz beleuchten. Ein interdisziplinäres Team von Forscher*innen der TU Graz, mit Hintergrund in Soziologie und Informatik, entwickelt unter der Leitung von Viktoria Pammer-Schindler & Bernhard Wieser ein Forschungsdesign, das größten Erkenntnisgewinn in kurzer Zeit bei unsicheren Faktoren verspricht.
Um die Erfahrungen mit der Digitalisierung unter Corona Bedingungen greifbar zu machen, setzt das Forschungsteam auf qualitative Sozialforschung. Durch Leitfadeninterviews, teilnehmende Beobachtung sowie Hintergrundrecherche für einen Überblick über die österreichweiten Aktivitäten soll die Erfahrung in seiner gesamten Breite und Vielfalt abgebildet werden. Im Fokus stehen dabei praktische Erfahrungen, schließlich sind in diesem Reallabor plötzlich alle Menschen der TU Graz unfreiwillig Teilnehmer*innen eines ungeplanten Experiments. Und nicht nur hier. 890 Millionen Studierende in 114 Ländern erleben einen plötzlichen E-Learning „Boost“ durch die Pandemie.
Das Studienkonzept funktioniert und findet durch das vom Land Steiermark geförderte Nachfolgeprojekt „Aus der Corona-Krise lernen!“ - Digitalisierungschancen Steirischer Hochschulen eine Erweiterung.
Digitalisierung ist eine Frage der Sichtweise
Im April 2020 ist die TU Graz einer plötzlichen Digitalisierung aufgrund der Covid-19 Stiuation unterworfen. Die Krise wird an der TU Graz aber auch als Chance begriffen. Das Reallabor untersucht genau diese neuralgischen Punkte der Interaktion zwischen Menschen und Technik. Es will nicht nur wissen, welche Maßnahmen und Technologien sich bewährt haben, sondern auch warum. Das Reallabor schließt damit eine Forschungslücke und hilft die Abwesenheit strategischer Überlegungen aufzudecken.
Corona ≠ Digitalisierung
Als das Corona-Digitalisierungs-Erdbeben alle Hochschulen trifft, steht die TU Graz auch aufgrund der langjährigen Vorbereitungsarbeiten, nicht zuletzt im Programm 'Digitale TU Graz',gut da. Viele Tools wurden bereits entwickelt und können rasch ausgerollt werden. Die Neuheit der Situation zwingt nun alle gemeinsam zu einem Zugang des Probierens und Lernens, das gegenseitige Verständnis ist hoch. Wo alles ganz schnell gehen muss, tauchen natürlich auch schnell Herausforderungen auf. Wer von heute auf morgen reagieren muss, hat wenig Gestaltungsspielraum für eine strategische Entwicklung.
Eine der zentralen Erkenntnisse aus dem Reallabor ist, dass die digitale Interaktion massiv anders erlebt wird als die physische. Menschlicher Austausch ist nicht leicht substituierbar. Das hat spürbare Auswirkungen auf Fragen der Identität einer ganzen Hochschule. Ebenfalls deutlich geworden ist, dass die Vorbereitung der TU Graz ein gutes Sprungbrett für einen Wandel sein kann. Der Kompetenzaufbau in der Digitalisierung hat sichtbar Früchte getragen. Im Zuge der neuen Situation wurde die gesamte technische Infrastruktur nun allerdings von einer großer Nutzer*innenzahl intensiv evaluiert.
Impuls und Erkenntnisgewinn
Mit der Krise hat der digitale Transformationsprozess eine unvorhersehbare Beschleunigung erfahren. Viele Chancen wurden neu identifiziert und ein Ruck ist durch die TU Graz gegangen. Getragen wurde das zu Beginn durch den gemeinsamen Spirit die Situation so gut wie möglich zu bewältigen. „Was notwendig ist, wird gemacht.“ Alle helfen sich gegenseitig und die TU hält zusammen. Das wurde von vielen Beteiligten als überaus positiv empfunden.
Über die Zeit wird die Betrachtung dann differenzierter. Mit fortschreitender Erfahrung sehen die Beteiligten mehr Dinge, die nicht so gut funktionieren. Andere Perspektiven treten wieder in den Vordergrund. Es ist insgesamt deutlich zu bemerken, dass ein Schwenk zurück in Richtung Campus gewünscht wird. Die Krise haben wir bewältigt, jetzt wollen wir die Uni zurückbringen.
Auch in Bezug auf technische Aspekte und Ressourcen zeichnen sich die Grenzen wieder deutlicher ab. Sind alle Möglichkeiten am Tisch, wird viel Neues ausprobiert und Veränderungsresistenzen lösen sich durch die starke Notwendigkeit in Luft auf. Mit etwas Abstand wird klar, welche Lösungen in einem normalen Alltag wenig Sinn machen.
Uni zeichnet sich durch Resilienz aus und legt Potenziale offen
Eine einzelne Studie kann nicht jeden Aspekt der Corona-Zeit abdecken. Im vorliegenden Fall ist es beispielsweise schwierig, die Effekte der Digitalisierung von Effekten des Social-Distancing eindeutig zu trennen. Die Digitalisierung hat sich im Rahmen der Untersuchung als Problemverstärker gezeigt.
Bereits bestehende Herausforderungen werden gut sichtbar: Mangelnde Ressourcenausstattung, fehlende Räume, schwierige Betreuungsverhältnisse, das Leistungsspektrum von Studierenden, die Altersstruktur und damit verbundene Digital Skills oder ein ökonomisches Ungleichgewicht rücken ins Rampenlicht. Auch die hohe Arbeitsbelastung in der Krise hinterlässt ihre Spuren. Im März 2020 muss beispielsweise ein Plus von 200 digitalen Lehrveranstaltungen oder eine Explosion beim Videokonferenztool auf 2.300 Nutzer*innen pro Tag mit einem raschen Update der Serverinfrastruktur kompensiert werden.
Viele Einzelpersonen haben durch ihr Engagement in diesem Notbetrieb dazu beigetragen, dass sich die TU Graz in dieser außergewöhnlichen Situation als krisenfeste Universität erweisen konnte. So bleibt die Stimmung, Menschen sind engagiert und durchaus stolz, dass sie die Lage beherrschen. Nur der persönliche Kontakt fehlt (fast) allen.
Motivation zur Krisenbewältigung ist durchgehend bei allen sehr hoch: „Das Beste aus der Corona-Situation machen!“
Was den Erkenntnisgewinn betrifft, hat dieser ungeplante Digitalisierungschub den gesamten Transformationsprozess nachhaltig beschleunigt. Es hat sich gezeigt, dass Personen und Organisationen an der Herausforderung wachsen und gemeinsam ein großer Schritt für die digitale Entwicklung gemacht wurde. Das Reallabor bringt zusätzlich erstmals klare Erkenntnisse als Diskussionsgrundlage für eine strategische Reflexion. Die Technologie wurde aktiv genutzt, der Umgang damit verinnerlicht. Das was normalerweise in 5 Jahren möglich gewesen wäre, wurde so in 5 Monaten erreicht.
Viele hätten die Erfahrung gar nicht gemacht und wären mit der Digitalisierung nicht so stark in Berührung gekommen. Das Probieren, nachdenken und reflektieren ist ein großer Wert für sich. Nur so setzen sich funktionierende Tools durch oder Alternativen werden entwickelt und getestet. Die Vorteile und digitalen Möglichkeiten werden zunehmend gesehen. Und auch unterschiedliche Bedürfnisse lassen sich durch die Erfahrung klarer formulieren. Studierende wünschen sich eine Einheitlichkeit bei den verwendeten Programmen und die damit verbundene Vereinfachung. Der technische Support ist ebenfalls für eine Vereinheitlichung, um Ressourcen gezielter einsetzen und Kompetenz aufbauen zu können. Lehrende hingegen schätzen die Freiheit zu verwenden, was sie am geeignetsten für die Vermittlung halten. Allen gemeinsam ist, dass sie hier einen optimalen Kompromiss für die Zukunft finden wollen.
Wert der Uni als sozialer Ort
Wie wichtig die Uni als physischer Ort des Austausches ist, kann man an den Ergebnissen deutlich ablesen. Das Betrifft die Verwaltung, die Forschung und die Lehre gleichermaßen, die Mischung aus unmittelbarem Kompetenzaustausch und Gemeinschaft fehlt auf jeder Ebene. Besonders das Onboarding bei Neuanstellungen wird deutlich schwieriger, der informelle Austausch fehlt völlig. Ein gutes Team, das bereits vorher stabil zusammengearbeitet hat, trifft sich auch digital öfter zum Kaffee. Darüber hinaus erfordert die Digitalisierung auch eine neue Führungskultur. Vertrauen und das richtige Maß an Kontrolle in Verbindung mit entsprechenden Konfliktlösungsstrategien sind essentiell.
Besonders einschneidend war die Umstellung für die Studierenden. Durch die fehlenden Sozialkontakte, wird digitale Universität negativ erlebt. Kommunikationsorte und Lernplätze für Austausch und kollaboratives Arbeiten offenbaren in der Abwesenheit ihre große Bedeutung. Auch für die Lehrenden ist der Kontakt mit Studierenden ein Wert an sich. Vorlesungen vor leeren Hörsälen ohne Interaktion gehören zu den Tiefpunkten der Krisenzeit.
Für das Lernen selbst hat sich gezeigt, dass haptisches Geschick nicht digital vermittelbar ist. Das richtige Bedienen von Geräten, das Zeichnen, das richtige Hantieren mit Objekten geht nur direkt.
Für die Architektur-Studierenden war der Präsenzmodus so
wichtig, dass ein weiteres digitales Semester für einige sogar
ein Grund zur Pausierung oder Unterbrechung des Studiums wäre.
Dieser Zugang ist für viele keine Überraschung, ist Architektur schließlich besonders stark als Projektstudium angelegt. Doch auch dort, wo ein Datenaustausch leichter möglich wäre, ist der indirekte Zugang weniger effizient. Informatiker*innen arbeiten lieber persönlich in Teams, die Interaktion wird einfacher und reichhaltiger in der physischen Interaktion. In der Mathematik offenbart sich, dass es nicht um das Präsentieren der fertigen Formel geht, sondern dass das Schreiben und Sprechen als gemeinsamer Prozess untrennbar mit dem Lernerfolg verknüpft ist.
Wie kann sich die Lehre entwickeln?
Eine Folge der unerwartet starken Digitalisierung war, dass versucht wurde analoge Lehrveranstaltungen 1:1 digital abzubilden. Vieles, was in der Präsenzlehre einfach zu bewerkstelligen ist, wie das Schreiben an der Tafel oder das Führen einer lebendigen Diskussion, ist im Digitalen allerdings wesentlich komplizierter.
Alle Lehrenden mit der Frage konfrontiert wie viel digital sie lehren, lernen und leben wollen. Die deutliche Erkenntnis für die didaktische Herangehensweise: Wir müssen die Lehre grundlegend überarbeiten, den Kern identifizieren und die Inhalte sinnvoll umsetzen. Lehrende brauchen für die Weiterentwicklung ihrer Lehrveranstaltungen Zeit und Ressourcen. Unzufriedenheit entsteht leicht, wenn sich der Vorbereitungsaufwand erhöht, während die Abgeltungsregelungen gleichbleiben.
Studierende wollen besser sehen, hören und nachvollziehen. Idealerweise werden Aufzeichnungen ausgebaut und nach Themen oder Teilaspekten strukturiert angeboten. Die gezielte Wiederholung verbessert die Prüfungsvorbereitung und erhöht die zeitliche Flexibilität.
Ein weiterer spannender Aspekt aus der Studie: Was passiert, wenn auf einmal das bestehende Regelwerk in vielen Bereichen außer Kraft gesetzt wird? Eigeninitiativ konnten die Lehrenden in der Krise alle Möglichkeiten einsetzen. Natürlich reagieren Einzelpersonen rascher als die Struktur. In der Ausnahmesituation brachte diese Freiheit deutlichen Mehrwert. Nun müssen Rahmenbedingungen der digitalen Lehre im erforderlichen Maß geschaffen werden, damit sich die neuen Möglichkeiten adäquat nutzen lassen.
Schub für eine strategische Digitalisierung
Den Verantwortlichen der TU Graz ist klar: Nicht alles, was wir tun mussten, wird auf Dauer so bleiben. Gemeinsam müssen wir die richtigen Lehren aus der Krise ziehen, Corona überwinden und digitale Möglichkeiten in Präsenz nutzen. Eine Fernuniversität will die TU Graz dabei keinesfalls werden.
Krisenbewältigung ≠ Modell für die Zukunft
Schnelle Entscheidungen sind weiterhin gewünscht, und doch ist Vorsicht geboten. Hochschulen können nur dann schnell und flexibel reagieren, wenn die Struktur entsprechend verändert wird, und wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. Alle Beteiligten brauchen Vorbereitungsmöglichkeiten für den Umstieg und neue Rahmenbedingungen. Die laufend wichtige Fragen ist: wie soll die TU Graz in Zukunft sein?
Die Potentiale digitaler Technologien kommen zum Tragen,
wenn sie in auf Basis von tragfähigen Beziehungen und
Verbindung mit Präsenzkultur genutzt werden können.
Die TU Graz ist auf dem besten Weg dazu, improvisierte, bewährte Lösungen in stabile und funktionierende Systeme zu überführen. Eine kluge Digitalisierung ist immer eine partielle, ergänzende Digitalisierung. Voneinander lernen, Erfahrungen nutzen und austauschen bringt alle gemeinsam weiter. Die Universität als Ort wird sich wandeln und erweitern, ganz sicher wird sie als sozialer Ort erhalten bleiben.
Eines ist nach dem einschneidenden Erlebnis auf jeden Fall für alle klar. Digitalisierung ist kein rein technischer Prozess. Sie manifestiert sich als übergreifender Transformationsprozess. Dieser Kulturwandel in der Organisation der TU Graz hat sichtbar begonnen und wird sich noch deutlich weiter fortsetzen.
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