Ungeplanter Versuch bringt weitreichende Erkenntnisse

Mit dem Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 steht die Gesellschaft plötzlich weitgehend still. Fieberhaft wird allerorten nach Lösungen gesucht, damit das Leben weitergehen und aufrechterhalten werden kann. Auch die TU Graz ist von der neuen Situation in jeder Faser betroffen. Lehre, Forschung und Verwaltung wechseln von einem Tag auf den anderen komplett in die digitale Welt und beweisen dabei erstaunliche Resilienz.

Bereits in den ersten Wochen der Krise wächst die kollaborative Idee, diese einzigartige Forschungssituation unter den Aspekten von Innovation und Change wissenschaftlich zu begleiten. Die Studie soll die Auswirkungen der Eildigitalisierung durch Corona auf die TU Graz beleuchten. Ein interdisziplinäres Team von Forscher*innen der TU Graz, mit Hintergrund in Soziologie und Informatik, entwickelt unter der Leitung von Viktoria Pammer-Schindler & Bernhard Wieser ein Forschungsdesign, das größten Erkenntnisgewinn in kurzer Zeit bei unsicheren Faktoren verspricht.

Um die Erfahrungen mit der Digitalisierung unter Corona Bedingungen greifbar zu machen, setzt das Forschungsteam auf qualitative Sozialforschung. Durch Leitfadeninterviews, teilnehmende Beobachtung sowie Hintergrundrecherche für einen Überblick über die österreichweiten Aktivitäten soll die Erfahrung in seiner gesamten Breite und Vielfalt abgebildet werden. Im Fokus stehen dabei praktische Erfahrungen, schließlich sind in diesem Reallabor plötzlich alle Menschen der TU Graz unfreiwillig Teilnehmer*innen eines ungeplanten Experiments. Und nicht nur hier. 890 Millionen Studierende in 114 Ländern erleben einen plötzlichen E-Learning „Boost“ durch die Pandemie.

Das Studienkonzept funktioniert und findet durch das vom Land Steiermark geförderte Nachfolgeprojekt „Aus der Corona-Krise lernen!“ - Digitalisierungschancen Steirischer Hochschulen eine Erweiterung.

Digitalisierung ist eine Frage der Sichtweise

Im April 2020 ist die TU Graz einer plötzlichen Digitalisierung aufgrund der Covid-19 Stiuation unterworfen. Die Krise wird an der TU Graz aber auch als Chance begriffen. Das Reallabor untersucht genau diese neuralgischen Punkte der Interaktion zwischen Menschen und Technik. Es will nicht nur wissen, welche Maßnahmen und Technologien sich bewährt haben, sondern auch warum. Das Reallabor schließt damit eine Forschungslücke und hilft die Abwesenheit strategischer Überlegungen aufzudecken.

Corona ≠ Digitalisierung

Als das Corona-Digitalisierungs-Erdbeben alle Hochschulen trifft, steht die TU Graz auch aufgrund der langjährigen Vorbereitungsarbeiten, nicht zuletzt im Programm 'Digitale TU Graz',gut da. Viele Tools wurden bereits entwickelt und können rasch ausgerollt werden. Die Neuheit der Situation zwingt nun alle gemeinsam zu einem Zugang des Probierens und Lernens, das gegenseitige Verständnis ist hoch. Wo alles ganz schnell gehen muss, tauchen natürlich auch schnell Herausforderungen auf. Wer von heute auf morgen reagieren muss, hat wenig Gestaltungsspielraum für eine strategische Entwicklung.

Eine der zentralen Erkenntnisse aus dem Reallabor ist, dass die digitale Interaktion massiv anders erlebt wird als die physische. Menschlicher Austausch ist nicht leicht substituierbar. Das hat spürbare Auswirkungen auf Fragen der Identität einer ganzen Hochschule. Ebenfalls deutlich geworden ist, dass die Vorbereitung der TU Graz ein gutes Sprungbrett für einen Wandel sein kann. Der Kompetenzaufbau in der Digitalisierung hat sichtbar Früchte getragen. Im Zuge der neuen Situation wurde die gesamte technische Infrastruktur nun allerdings von einer großer Nutzer*innenzahl intensiv evaluiert.

Impuls und Erkenntnisgewinn

Mit der Krise hat der digitale Transformationsprozess eine unvorhersehbare Beschleunigung erfahren. Viele Chancen wurden neu identifiziert und ein Ruck ist durch die TU Graz gegangen. Getragen wurde das zu Beginn durch den gemeinsamen Spirit die Situation so gut wie möglich zu bewältigen. „Was notwendig ist, wird gemacht.“ Alle helfen sich gegenseitig und die TU hält zusammen. Das wurde von vielen Beteiligten als überaus positiv empfunden.

Über die Zeit wird die Betrachtung dann differenzierter. Mit fortschreitender Erfahrung sehen die Beteiligten mehr Dinge, die nicht so gut funktionieren. Andere Perspektiven treten wieder in den Vordergrund. Es ist insgesamt deutlich zu bemerken, dass ein Schwenk zurück in Richtung Campus gewünscht wird. Die Krise haben wir bewältigt, jetzt wollen wir die Uni zurückbringen.

Auch in Bezug auf technische Aspekte und Ressourcen zeichnen sich die Grenzen wieder deutlicher ab. Sind alle Möglichkeiten am Tisch, wird viel Neues ausprobiert und Veränderungsresistenzen lösen sich durch die starke Notwendigkeit in Luft auf. Mit etwas Abstand wird klar, welche Lösungen in einem normalen Alltag wenig Sinn machen.

Uni zeichnet sich durch Resilienz aus und legt Potenziale offen

Eine einzelne Studie kann nicht jeden Aspekt der Corona-Zeit abdecken. Im vorliegenden Fall ist es beispielsweise schwierig, die Effekte der Digitalisierung von Effekten des Social-Distancing eindeutig zu trennen. Die Digitalisierung hat sich im Rahmen der Untersuchung als Problemverstärker gezeigt.

Bereits bestehende Herausforderungen werden gut sichtbar: Mangelnde Ressourcenausstattung, fehlende Räume, schwierige Betreuungsverhältnisse, das Leistungsspektrum von Studierenden, die Altersstruktur und damit verbundene Digital Skills oder ein ökonomisches Ungleichgewicht rücken ins Rampenlicht. Auch die hohe Arbeitsbelastung in der Krise hinterlässt ihre Spuren. Im März 2020 muss beispielsweise ein Plus von 200 digitalen Lehrveranstaltungen oder eine Explosion beim Videokonferenztool auf 2.300 Nutzer*innen pro Tag mit einem raschen Update der Serverinfrastruktur kompensiert werden.

Viele Einzelpersonen haben durch ihr Engagement in diesem Notbetrieb dazu beigetragen, dass sich die TU Graz in dieser außergewöhnlichen Situation als krisenfeste Universität erweisen konnte. So bleibt die Stimmung, Menschen sind engagiert und durchaus stolz, dass sie die Lage beherrschen. Nur der persönliche Kontakt fehlt (fast) allen.

Motivation zur Krisenbewältigung ist durchgehend bei allen sehr hoch: „Das Beste aus der Corona-Situation machen!“

Was den Erkenntnisgewinn betrifft, hat dieser ungeplante Digitalisierungschub den gesamten Transformationsprozess nachhaltig beschleunigt. Es hat sich gezeigt, dass Personen und Organisationen an der Herausforderung wachsen und gemeinsam ein großer Schritt für die digitale Entwicklung gemacht wurde. Das Reallabor bringt zusätzlich erstmals klare Erkenntnisse als Diskussionsgrundlage für eine strategische Reflexion. Die Technologie wurde aktiv genutzt, der Umgang damit verinnerlicht. Das was normalerweise in 5 Jahren möglich gewesen wäre, wurde so in 5 Monaten erreicht.

Viele hätten die Erfahrung gar nicht gemacht und wären mit der Digitalisierung nicht so stark in Berührung gekommen. Das Probieren, nachdenken und reflektieren ist ein großer Wert für sich. Nur so setzen sich funktionierende Tools durch oder Alternativen werden entwickelt und getestet. Die Vorteile und digitalen Möglichkeiten werden zunehmend gesehen. Und auch unterschiedliche Bedürfnisse lassen sich durch die Erfahrung klarer formulieren. Studierende wünschen sich eine Einheitlichkeit bei den verwendeten Programmen und die damit verbundene Vereinfachung. Der technische Support ist ebenfalls für eine Vereinheitlichung, um Ressourcen gezielter einsetzen und Kompetenz aufbauen zu können. Lehrende hingegen schätzen die Freiheit zu verwenden, was sie am geeignetsten für die Vermittlung halten. Allen gemeinsam ist, dass sie hier einen optimalen Kompromiss für die Zukunft finden wollen.

Wert der Uni als sozialer Ort

Wie wichtig die Uni als physischer Ort des Austausches ist, kann man an den Ergebnissen deutlich ablesen. Das Betrifft die Verwaltung, die Forschung und die Lehre gleichermaßen, die Mischung aus unmittelbarem Kompetenzaustausch und Gemeinschaft fehlt auf jeder Ebene. Besonders das Onboarding bei Neuanstellungen wird deutlich schwieriger, der informelle Austausch fehlt völlig. Ein gutes Team, das bereits vorher stabil zusammengearbeitet hat, trifft sich auch digital öfter zum Kaffee. Darüber hinaus erfordert die Digitalisierung auch eine neue Führungskultur. Vertrauen und das richtige Maß an Kontrolle in Verbindung mit entsprechenden Konfliktlösungsstrategien sind essentiell.

Besonders einschneidend war die Umstellung für die Studierenden. Durch die fehlenden Sozialkontakte, wird digitale Universität negativ erlebt. Kommunikationsorte und Lernplätze für Austausch und kollaboratives Arbeiten offenbaren in der Abwesenheit ihre große Bedeutung. Auch für die Lehrenden ist der Kontakt mit Studierenden ein Wert an sich. Vorlesungen vor leeren Hörsälen ohne Interaktion gehören zu den Tiefpunkten der Krisenzeit.

Für das Lernen selbst hat sich gezeigt, dass haptisches Geschick nicht digital vermittelbar ist. Das richtige Bedienen von Geräten, das Zeichnen, das richtige Hantieren mit Objekten geht nur direkt.

Für die Architektur-Studierenden war der Präsenzmodus so
wichtig, dass ein weiteres digitales Semester für einige sogar
ein Grund zur Pausierung oder Unterbrechung des Studiums wäre.

Dieser Zugang ist für viele keine Überraschung, ist Architektur schließlich besonders stark als Projektstudium angelegt. Doch auch dort, wo ein Datenaustausch leichter möglich wäre, ist der indirekte Zugang weniger effizient. Informatiker*innen arbeiten lieber persönlich in Teams, die Interaktion wird einfacher und reichhaltiger in der physischen Interaktion. In der Mathematik offenbart sich, dass es nicht um das Präsentieren der fertigen Formel geht, sondern dass das Schreiben und Sprechen als gemeinsamer Prozess untrennbar mit dem Lernerfolg verknüpft ist.

Wie kann sich die Lehre entwickeln?

Eine Folge der unerwartet starken Digitalisierung war, dass versucht wurde analoge Lehrveranstaltungen 1:1 digital abzubilden. Vieles, was in der Präsenzlehre einfach zu bewerkstelligen ist, wie das Schreiben an der Tafel oder das Führen einer lebendigen Diskussion, ist im Digitalen allerdings wesentlich komplizierter.

Alle Lehrenden mit der Frage konfrontiert wie viel digital sie lehren, lernen und leben wollen. Die deutliche Erkenntnis für die didaktische Herangehensweise: Wir müssen die Lehre grundlegend überarbeiten, den Kern identifizieren und die Inhalte sinnvoll umsetzen. Lehrende brauchen für die Weiterentwicklung ihrer Lehrveranstaltungen Zeit und Ressourcen. Unzufriedenheit entsteht leicht, wenn sich der Vorbereitungsaufwand erhöht, während die Abgeltungsregelungen gleichbleiben.

Studierende wollen besser sehen, hören und nachvollziehen. Idealerweise werden Aufzeichnungen ausgebaut und nach Themen oder Teilaspekten strukturiert angeboten. Die gezielte Wiederholung verbessert die Prüfungsvorbereitung und erhöht die zeitliche Flexibilität.

Ein weiterer spannender Aspekt aus der Studie: Was passiert, wenn auf einmal das bestehende Regelwerk in vielen Bereichen außer Kraft gesetzt wird? Eigeninitiativ konnten die Lehrenden in der Krise alle Möglichkeiten einsetzen. Natürlich reagieren Einzelpersonen rascher als die Struktur. In der Ausnahmesituation brachte diese Freiheit deutlichen Mehrwert. Nun müssen Rahmenbedingungen der digitalen Lehre im erforderlichen Maß geschaffen werden, damit sich die neuen Möglichkeiten adäquat nutzen lassen.

Schub für eine strategische Digitalisierung

Den Verantwortlichen der TU Graz ist klar: Nicht alles, was wir tun mussten, wird auf Dauer so bleiben. Gemeinsam müssen wir die richtigen Lehren aus der Krise ziehen, Corona überwinden und digitale Möglichkeiten in Präsenz nutzen. Eine Fernuniversität will die TU Graz dabei keinesfalls werden.

Krisenbewältigung ≠ Modell für die Zukunft

Schnelle Entscheidungen sind weiterhin gewünscht, und doch ist Vorsicht geboten. Hochschulen können nur dann schnell und flexibel reagieren, wenn die Struktur entsprechend verändert wird, und wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. Alle Beteiligten brauchen Vorbereitungsmöglichkeiten für den Umstieg und neue Rahmenbedingungen. Die laufend wichtige Fragen ist: wie soll die TU Graz in Zukunft sein?

Die Potentiale digitaler Technologien kommen zum Tragen,
wenn sie in auf Basis von tragfähigen Beziehungen und

Verbindung mit Präsenzkultur genutzt werden können.

Die TU Graz ist auf dem besten Weg dazu, improvisierte, bewährte Lösungen in stabile und funktionierende Systeme zu überführen. Eine kluge Digitalisierung ist immer eine partielle, ergänzende Digitalisierung. Voneinander lernen, Erfahrungen nutzen und austauschen bringt alle gemeinsam weiter. Die Universität als Ort wird sich wandeln und erweitern, ganz sicher wird sie als sozialer Ort erhalten bleiben.

Eines ist nach dem einschneidenden Erlebnis auf jeden Fall für alle klar. Digitalisierung ist kein rein technischer Prozess. Sie manifestiert sich als übergreifender Transformationsprozess. Dieser Kulturwandel in der Organisation der TU Graz hat sichtbar begonnen und wird sich noch deutlich weiter fortsetzen.