Großer Zuspruch für neues Studium mit interdisziplinärer und uniübergreifender Vision

Einen erfolgreichen Start legt das neue, englischsprachige Masterstudium Computational Social Systems hin, das von der TU Graz und Uni Graz im Wintermester 2021/22 zum ersten Mal angeboten wird. Das Konzept, digitale Skills aus einer multidisziplinären Perspektive zu begreifen, findet großen Zuspruch und das Programm nimmt direkt kräftig Fahrt auf.

90 Anmeldungen statt der erwarteten 20 - 30 machen das neue Studium aus dem Stand zum viertgrößten Masterprogramm an der TU Graz. Die Quote von 50% weiblichen Studierenden liegt weit über dem TU Graz Schnitt. Kein Wunder, dass die Stimmung zum Start bei den Projektverantwortlichen David Garcia und Stefan Thalmann sehr gut ist. Besonders erfreut zeigen sie sich darüber, dass die Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen einen intensiven und regelmäßigen Austausch selbstständig anstreben und damit dem interdisziplinären Gedanken eine zusätzliche Dimension verleihen.

Ein gemeinsames Kind zweier Universitäten lernt laufen

Mit der Entwicklung dieses Masterstudiums von TU Graz und Uni Graz wurde erstmals ein hochschulübergreifendes Studium in Graz realisiert. Die TU Graz bringt dabei ihre gesammelten informatischen Kompetenzen (Programmieren, Data Science, Machine Learning) in das Curriculum ein, die Uni Graz ergänzt mit dem Wissen aus ihren Fachdisziplinen (Betriebswirtschaftslehre, Psychologie, Rechtswissenschaften, Soziologie). Durch dieses kollaborative Vorgehen zwischen den Universitäten können Studierende Fähigkeiten erwerben, um die digitale Gesellschaft besser zu verstehen und die Chancen der digitalen Transformation zu nutzen. Das Masterstudium bietet eine einmalige Kombination aus unterschiedlichsten Perspektiven und Fähigkeiten.

Der Austausch funktioniert in Graz durch die Stadtgröße und die damit verbundenen kurzen Wege besonders gut. Die Nähe fördert traditionell Kooperationen zwischen Studierenden und Forschenden. Bei der Uni Graz, besonders den Naturwissenschaften, und der TU Graz lassen sich mehrere Kollaborationen zwischen Einheiten beobachten. Eine Zusammenarbeit wird ganz pragmatisch dort gefördert, wo es Sinn macht und Kräfte bündelbar sind. Dieser interdisziplinäre Zugang steckt auch hinter der Idee für das Masterstudium.

„Damit ein derartiges Projekt verwirklicht werden kann, braucht es einen langen Atem“, fasst das uniübergreifende Projektleitertandem die Anstrengungen zusammen. David Garcia, Professor für Computational Behavioral and Social Sciences, ist im Oktober 2020 genau für diese Kooperation an die TU Graz gekommen. Stefan Thalmann, Professor für Business Analytics und Data Science, beschäftigt sich seit drei Jahren für die Uni Graz mit der Realisierung. Seine Ausbildung als Wirtschaftsinformatiker und seine vorherige Tätigkeit auf der TU Graz waren bei dieser neuartigen Verschränkung überaus nützlich.

Viel Rückenwind hat das Projekt durch die Rektorate beider Universitäten erfahren. Es ist die konsequente Fortsetzung der 'Route 63' Kooperation, bei der die beiden Universitäten 2018 erstmals eine Reihe ihrer Kurse aus dem Wahlfachkatalog in den Bereichen Wirtschaft, Soziologie, Psychologie und Informatik für Studierende der anderen Universitäten öffneten. Die Brückenbildung über Disziplingrenzen hinweg wurde auch in der Zielvereinbarung beider Universitäten festgeschrieben. Aus der Verbindung erfolgreicher Ansätze und einer ambitionierten Idee wurde das gemeinsame Masterstudium Computational Social Systems entwickelt.

Perspektiven und Fähigkeiten richtig verbinden

Größte Herausforderung bei der inhaltlichen Konzeption eines interdisziplinären Studiums: Wie können wir ausreichend fokussiert bleiben und einen Disziplin-Mix vermeiden? Für die Beteiligten ist klar, dass eine gute Verankerung in der Theorie das Fundament bildet und die Reflexion der Theoriegrenzen auch im Austausch erhalten bleiben muss.

Informatik bildet eine wichtige Ergänzung und ist das Querschnittsthema des Studiums. Das Fundament aus Datenstrukturen, Algorithmen, Statistik, maschinellem Lernen und Data Science hilft das Verhalten von Benutzer*innen digitaler Technologien zu verstehen, einzuordnen und vorherzusagen. Die Studierenden können damit aus großen Datenmengen mit Methoden der Informatik und fachlichem Know-how wertvolles Wissen ableiten und eine verantwortungsvolle Nutzung dieser Daten garantieren.

Digitale Transformation verstehen, kritisch reflektieren und mitgestalten

Aktuelle Forschungsprojekte im Bereich der Sozialwissenschaft widmen sich beispielsweise der Analyse von Social Media-Postings, die unmittelbar nach Ereignissen wie Naturkatastrophen oder Terroranschlägen veröffentlicht wurden. Hier nutzen Forschende der TU Graz computerwissenschaftlicher Methoden, um das Verhalten der Gesellschaft in und nach solchen Situationen besser zu verstehen. Die Studierenden liefern einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft, indem sie sozio-technische Systeme erforschen, zukünftige Technologien entwickeln und deren Auswirkungen kritisch reflektieren.

Größter Vorteil des neuen Studiums ist die Verbindung aus übergreifendem Wissen und der großen Spezialisierung. 75% der Zeit geht in Richtung Fachspezialisierung, 25% in den gemeinsamen Austausch. Das Angebot der Kurse auf beiden Unis bietet eine große Auswahl für eine Wissenserweiterung. Ergänzt wird die Expertise zweier Universitäten noch zusätzlich mit einem Forschungsnetzwerk international renommierter Vortragender.

Lehrgänge für die Zukunft

Es besteht im Moment ein besonderer Bedarf der Arbeits- und Forschungswelt nach dieser Art der Ausbildung. Wollen die Hochschulen eine digitale Transformation aktiv mitgestalten, müssen sie neue Angebote in der Lehre schaffen. Studierende der Informatik brauchen schon lange ein grundlegendes Verständnis für menschliche, soziale, legale oder ethische Fragen. Das neue Masterstudium eröffnet die Perspektive aus der anderen Richtung. Ziel ist es, die Studierenden mit den nötigen Kenntnissen auszustatten, damit sie digitale Fähigkeiten in ihren Disziplinen bestmöglich nutzen können. Dafür ist das Studium forschungsgetrieben und nachhaltig aufgestellt, nicht ohne die Perspektiven und Anforderungen eines modernen Arbeitsmarkts mitzuberücksichtigen.

TU Graz und Uni Graz wollen gemeinsam ein neues Bild zur Informatik kreieren, Vorreiter in modernen Ausbildungen werden und damit neue Standards setzen. Durch eine positive Imageänderung erschließt sich die Informatik zusätzlich neuen Zielgruppen. Technische Studien sind für Frauen aktuell noch weniger attraktiv als Studienrichtungen mit gesellschaftlichen Aspekten. Gleichzeitig brauchen auch Menschen aus allgemeinbildenden Zweigen am Arbeitsmarkt verstärkt informatisches und digitales Sprachverständnis.

Für einen erweiterten Erkenntnisgewinn ist das Masterstudium Computational Social Systems eingebettet in das Gesamtprojekt Teaching Digital Thinking, eine umfassende Kollaboration österreichischer Hochschulen. Alle Projekte gestalten die digitale Transformation im Studium und darüber hinaus mit und entwickeln gemeinsam Tools zur Stärkung der interdisziplinären Kollaboration, Kooperation und Kommunikation. Für die Zukunft ebenfalls entscheidend: Die Entwicklung neuer didaktischer Methoden und Konzepte, die es erlauben digitalen und informatischen Kompetenzen weitreichend zu vermitteln. Digitales Lehren und Lernen hilft dabei, die Welt von Morgen zu gestalten.

Die Uni als Unicorn Farm

Das Masterstudium Computational Social Systems kann auf jeden Fall einen Starterfolg verzeichnen. Es trifft den Nerv, präsentiert sich als zeitgemäßes Studium für eine Millenial Culture und begeistert Studierende mit neuen Möglichkeiten. Der Arbeitsmarkt zeigt bereits jetzt großes Interesse an künftigen Absolvent*innen. Vom Consulting bis in die öffentliche Verwaltung werden diese bereits jetzt dringend gesucht. Die Basis für Kooperationen bei Masterarbeiten ist überdurchschnittlich hoch. Menschen, die interdisziplinär ausgebildet sind, denken und arbeiten im Idealfall über die Grenzen hinweg. Sie können zwischen Fachexperten und Informatik übersetzen. Oder als Datanalyst*innen ihre Erfahrung mit menschlichen Disziplinen einbringen.

Menschen mit technischem Hintergrund finden in Zukunft in allen Disziplinen viele Möglichkeiten. Dass diese so selten wie Einhörner sind, macht sie auch in der freien Wirtschaft hochbegehrt. Mit einem Schmunzeln spricht David Garcia deshalb über das Projekt auch über eine „Unicorn Farm“, die sich auf der Universität gerade entwickelt.

Klingt zu gut um wahr zu sein? Das ist wahrscheinlich dem großen Anfangsenthusiasmus geschuldet, für eine ernsthafte Evaluierung ist es derzeit noch zu früh. Darüber hinaus ist sich das Projektteam mit all seinen Beteiligten der Herausforderungen durchaus bewusst. Entscheidet man sich für ein interdisziplinäres Studium, müssen gewisse Nachteile in Kauf genommen werden. Studierende fallen tendenziell raus aus den Anreizen der einzelnen Disziplinen. Publizieren auf einem neuen Gebiet ist eine größere Herausforderung. Der Weg zu einer Professur nicht vorgezeichnet, man muss einen eigenen Weg finden. Und ebenfalls nicht geradlinig wird sich auch der Weg zu Fördermitteln gestalten.

Den Startvorteil langfristig nutzen

Bei einem derart langfristig geplanten Programm ist die Spannung natürlich groß, wie es sich entwickelt. Aktuell scheint es den hohen Erwartungen von allen Seiten zu entsprechen, das verleiht zusätzlich Motivation und Engagement. Die ersten Beobachtungen sind auf jeden Fall vielversprechend. Sozialisierung und Vernetzung zwischen den Studierenden haben von Anfang an gut funktioniert. Gerade nach Corona ist der Wunsch nach einem lebendigen Austausch natürlich besonders hoch, alle freuen sich darauf, Menschen aus anderen Disziplinen kennenzulernen. Eigeninitiativen sorgen für regelmäßige Treffen, das Entdecken und Fördern von disziplinverbindenden Interessen ist sofort stark ausgeprägt. Im Moment scheint der Plan gut aufzugehen, die Transformation erleben alle hautnah mit.

Graz betritt mit diesem Pilotprojekt universitäres Neuland. Diese Art des fachbereichsübergreifenden Austausches ist in Europa noch sehr selten. Einzelne erfolgreiche Angebote finden sich in Aachen, Konstanz (Deutschland) oder Linköping (Schweden). Zum Grazer Programm gibt es nichts Vergleichbares, alle anderen Angebote sind deutlich spezialisierter. Und niemand sonst bringt vier Fachbereiche mit Informatik über zwei Universitäten hinweg zusammen. Feedback und Beobachtungen aus der Praxis werden dabei helfen, das Masterstudium weiter zu verbessern und weitere interdisziplinäre Projekte anzuleiten.

Wie begehrt das Studium ist, bleibt auf jeden Fall auch anderen Universitäten nicht verborgen, weitere österreichische Universitäten planen bereits ähnliche Studiengänge. Insgesamt sind sich die Beteiligten sicher, dass diese Art von Kulturwandel für die Universitäten viel zusätzlichen Nutzen bringen wird. Es öffnet relevante und spannende Forschungsthemen und generiert damit wegweisenden Output. Aus und über Computational Social Systems wird man in Zukunft mit Sicherheit noch viel hören.