Machtkritische Bildung als transformativer Prozess

Autorinnen: Iris Mendel, Lisa Scheer

Was soll Bildung im Kontext einer Gesellschaft leisten, die von Vielfachkrisen wie Klimawandel, Krieg, Entdemokratisierung und zunehmender sozialer Ungleichheit geprägt ist? Welche Kompetenzen sind notwendig für gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung? Antworten auf diese Fragen findet man aktuell unter den Schlagworten 21st Century Skills, Future Skills, 4K oder Zukunftskompetenzen. Aus Perspektive der kritischen Bildungswissenschaften ist hingegen fraglich, inwiefern sich klare Antworten auf solche Fragen überhaupt geben lassen, ist die Zukunft doch noch offen und ungewiss. Was ist dann kritische Bildung, wenn nicht ein Set von klar umrissenen Skills und Mindsets? Und wie steht das im Zusammenhang mit Transformation?

Vier illustrierte Menschen sprechen miteinander
c iStock, Chinga

Bewusstwerden und bewusst fragen

Bildung umfasst aus kritischer Perspektive immer einen transformativen Prozess: sich über die eigene gesellschaftliche Positionierung bewusstwerden, das „Selbst- und Weltverhältnis“ (Frigga Haug) verändern und damit in Frage stellen, was als selbstverständlich und natürlich erscheint. Hinterfragt man im Zuge von kritischer Bildung die eigenen Erfahrungen kritisch, so schafft das Verunsicherung und kann zuweilen auch in die Krise führen: Wer gilt auf der Universität oder in der Schule als „fleißig“ und „begabt“? Wer ist „erfolgreich“ und wer „scheitert“? Wer sitzt tagsüber im Büro und wer putzt abends die Räume? Welche (Forschungs-)Fragen werden gestellt und welches Wissen produziert? Und wie steht dies im Zusammenhang mit rassistischen, sexistischen, abelistischen, klassistischen Machtverhältnissen?

Dies ist Hintergrund des Projekts „Habitus.Macht.Bildung – Transformation durch Reflexion“, das gemeinsam mit Susanne Kink-Hampersberger und unter der Leitung von Kathrin Otrel-Cass von Jänner 2019 bis Dezember 2021 am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung (Arbeitsbereich Lehren/Lernen und digitale Transformation) der Universität Graz durchgeführt wurde. An der Projektidee arbeiteten Katarina Froebus und Veronika Wöhrer mit, die Finanzierung erfolgte durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF). Zentral beschäftigten wir uns als Team im Projekt mit der Frage, wie die in Anschluss an Pierre Bourdieu so genannte Habitusreflexivität bei Lehrenden und Studierenden gefördert werden kann.

Habitusreflexivität basiert auf einer Auseinandersetzung mit Bildung(sungleichheit) und Habitus. Pierre Bourdieu, einer der meinungsbildendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, versteht den Habitus als das Bindeglied zwischen Struktur- und Handlungsperspektive, zwischen Gesellschaft und Individuum. Der Habitus ist quasi die verinnerlichte Gesellschaft aus einer bestimmten sozialen Position heraus.

Der Habitus betitelt konkret, wie jemand geht, steht, spricht, denkt, sich selbst und die Welt wahrnimmt und sich in ihr bewegt und konstituiert sich daher aus einer sozialen Position heraus, in der die Person aufgewachsen ist bzw. die sie innehat. Beim Herausbilden des Habitus werden unweigerlich gesellschaftlichen Machtverhältnisse verinnerlicht. Sie äußern sich beispielsweise in Form der Ziele, Normen und Werte, nach denen jemand lebt. Die soziale Position ergibt sich, laut Bourdieu, auch aus der Ausstattung mit verschiedenen Kapitalien: ökonomische Ressourcen, Netzwerke, Fähigkeiten, Bildungstiteln und kulturelle Güter. Somit trägt man über den Habitus wiederum zur Reproduktion dieser Machtverhältnisse bei.

Eine Illustration einer Frau die eine Glühbirne hält
c iStock, Denis Novikov

Unternehmer*inneneltern ziehen Unternehmer*innenkinder heran – so zumindest das theoretische Grundkonzepts des französischen Soziologen. Welche Rolle spielt in diesem Konstrukt nun Habitusreflexivität?

Die Rolle der Habitusreflexivität

Habitusreflexivität beschreibt das Bewusstwerden über Entstehung und Gestalt des eigenen Habitus sowie jener von Kolleg*innen, Vorgesetzten und Studierenden, verbunden mit dem Nachdenken darüber, wie das mit Machtverhältnissen an der Universität und in der Gesellschaft zu tun hat. Inwiefern bin ich in einer gesellschaftlich privilegierten oder marginalisierten Position? Wo profitiere ich als Person von struktureller sozialer Ungleichheit und wo werde ich dadurch benachteiligt? Welche Macht habe ich als Lehrperson und wo sind die (institutionellen) Grenzen meiner Handlungsfähigkeit? Warum tun sich manche im Studium oder Beruf „leichter“ als andere? Welche Normen und Werte kommen in den Vorstellungen von Leistung(sfähigkeit), Wissenschaft, Studium, Student*in, Erfolg, Bildungsaufstieg etc. zum Ausdruck? Was sind die (oft unausgesprochenen) institutionellen Regeln und wen begünstigen sie? Eine solche Habitusreflexivität ist insbesondere für Pädagog*innen und Lehrende relevant, denn sie führt zur Frage, wie man selbst als Lehrperson – bewusst und unbewusst – an der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen beteiligt ist, aber auch, wie die Institution Schule oder Universität, deren Logiken und Machtmechanismen daran beteiligt sind.

Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen verunsichert oft – und zwar sowohl Studierende wie auch Lehrende. Bei Studierenden kann es zu Gefühlen der Macht- und Hilflosigkeit führen, womöglich zur Resignation, aufgrund des Eindrucks, Strukturen als einzelne*r Student*in ohnehin nicht ändern zu können. Es kann sich auch Widerstand einstellen, zum Beispiel wenn die Leistungsgesellschaft und der eigene „Erfolg“ darin in Frage gestellt werden. Ähnlich unangenehme Gefühle können bei Lehrenden entstehen, deren Lehrhandeln im Spannungsfeld von institutionellen Vorgaben, der Verpflichtung zur Beurteilung und der Ermöglichung von Lernprozessen verortet ist. Auf diese Herausforderungen gibt es keine klaren Antworten. Eine Ambiguität, die nicht einfach auflösbar ist.

vier illustrierte Menschen arbeiten miteinander
c iStock, Viktoria Kurpas

Dies bringt uns wiederum zurück zum Diskurs der so genannten Future Skills, zu denen neben Selbst- und Reflexionskompetenz auch die Ambiguitätskompetenz gezählt wird. Welche Rolle derartige Future Skills zukünftig im Lehren und Lernen haben werden, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass machtkritische Bildung uns im Kontext der Transformationsprozesse der Universitäten noch länger begleiten wird.


Wer sich näher mit der Transformation durch Reflexion über Habitus, Macht und Bildung beschäftigen möchte, der*dem empfehlen wir die frei zugänglichen Bildungsmaterialien (Open Educational Resources, kurz OER), die im Rahmen des Projekts entstanden und hier zu finden sind: habitusmachtbildung.uni-graz.at.